DIE ZEIT
10/2005
Denn sie wissen, was wir tun
Geheimdienste und Polizei erfahren mehr über die Bevölkerung, als die Verfassung erlaubt. Und kaum einer merkt, wie seine Freiheit schwindet
Von Jochen Bittner
Das Infrarot-Erfassungsgerät sieht aus wie ein hochkant gestellter Toaster auf einem Kamerastativ. Ein kurzer Blick – und schon blinkt dem Betrachter sein eigenes, dreidimensional wirkendes Porträt vom Computerbildschirm nebenan entgegen. In einem Sekundenbruchteil hat der Rechner aus 64000 Abtastpunkten ein hologrammartiges Bild gezaubert. Wie zum Gruße schwingt es um die eigene Achse. Schaurig, wie die digitale Totenmaske aus leeren Augen blickt. Unheimlich, dass das eigene Spiegelbild macht, was es will.© Smetek für DIE ZEIT BILD
Nächste Station: der Fingerabdruck. Ein junger Mitarbeiter am Institut für biometrische Identifikationssysteme an der Fachhochschule Friedberg versichert, die gescannten Daten blieben natürlich unter uns. Also gut, Daumen auf das Glasplättchen. Der Computer dankt und bittet um die nächsten drei Finger – ganz höflich, so ähnlich, wie ein Arzt fragen würde: Machen Sie sich bitte mal frei?
Die beiden Techniken, das Konterfei aus dem Computer und der digitalisierte Fingerabdruck, sollen künftig dem Vergleich an Grenzkontrollen dienen: Die aufgenommenen Daten werden mit dem Speicherinhalt eines Chips im Pass verglichen. So hat es das Parlament gleich nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 beschlossen. Im Herbst soll es nun so weit sein, dann will die Bundesregierung die ersten Reisepässe mit Biometrie-Chip ausgeben. Von 2007 an soll der biometrische Personalausweis folgen.
Und, was ist schon dabei? Das bisherige Passfoto ist schließlich auch ein »biometrisches Merkmal«. Warum also den Vergleich zwischen eingetragenem Merkmal und Mensch den bisweilen müden Augen eines Grenzbeamten überlassen, wenn dies ein Computer viel zuverlässiger kann? Schließlich gilt: Terrorist erkannt, Gefahr gebannt.
»Volkszählungsurteil«, das klingt heute wie aus einer anderen Zeit
Doch die prozessorgestützte Identifizierung könnte noch viel mehr leisten. Unter bestimmten Voraussetzungen macht sie, kurz gesagt, den Menschen maschinenlesbar: Sollten die Gesichts- und Fingerdaten irgendwo zentral gespeichert werden, wird der Körper des Bürgers zum Strichcode, mithin so leicht zu verfolgen wie ein UPS-Päckchen. Mit recht geringem Aufwand ließen sich nicht nur Bewegungen identifizieren, sondern aufgrund dieser Informationen auch Gewohnheiten, Bekanntschaften, berufliche und private Absichten. Manch ein Sicherheitspolitiker bekommt angesichts solcher Möglichkeiten leuchtende Augen.
»Wir sollten ohne Scheuklappen darüber nachdenken, wo uns die moderne Technik helfen kann«, sagt Clemens Binninger, Sicherheitsexperte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Warum sollte man nicht die 300 so genannten islamistischen Top-Gefährder, die der Verfassungsschutz in seiner »Mudschahedin«-Datei führt, biometrisch registrieren, fragt der ehemalige Polizist. Ein paar unauffällige Polizei-Kameras, die in Fußgängerzonen oder Bahnhöfen sämtliche Passantengesichter mit einer biometrischen Verbrecherdatenbank abgleichen – fertig wäre der al-Qaida-Detektor. »Nehmen Sie zum Beispiel die Anschläge auf die Züge in Madrid. Vielleicht hätte man die verhindern können«, sagt Binninger, »hätte man gemerkt, dass diese Täter sich häufig an Bahnhöfen herumtrieben.«
Und es stimmt ja auch: Gegen neue Bedrohungen braucht es neue Instrumente. Freiheit, das bedeutete vor einigen Jahrzehnten für die meisten Deutschen noch die Abwesenheit von staatlicher Kontrolle. Doch je mehr die Erinnerung an Diktatur und Willkürherrschaft verblassten, desto mehr freundeten sich die Deutschen mit dem neuen Vater Staat an. Spätestens seit dem 11.September gedeiht geradezu eine Romanze zwischen Bürger und Big Brother. Sicher, für diesen Flirt gibt es eine Reihe guter Gründe: den 11.März 2004 in Madrid (fast 200 Tote), den 11. April 2002 (14 Deutsche starben bei einem Anschlag auf die Synagoge von Dscherba) und immer mal wieder ein paar ausgehobene Schläfer-Zellen rund um München oder Frankfurt. Die schlimmsten Gefahren für den Bürger gehen also nicht vom Staat aus, sondern von dessen fundamentalistischen Feinden. Auch nach dem nächsten Anschlag wird die Öffentlichkeit als Erstes fragen, ob Geheimdienste und Polizei den Terroristen nicht vorher hätten auf die Schliche kommen können. Und doch: Ist diesem Staat und dieser Gesellschaft eigentlich bewusst, wie weit sich die bundesrepublikanische Demokratie im Kampf gegen den Terrorismus schon von ihrem ursprünglichen freiheitlichen Selbstverständnis entfernt hat?
Frage an Clemens Binninger: Könnten nicht eine ganze Menge Personen in die biometrische Fahndungsdatenbank geraten? »Nur solche«, sagt Binninger, »die aufgrund ihrer Persönlichkeit als latente Gefahr für die öffentliche Sicherheit gelten können.« Gefährliche Persönlichkeiten? Wo fangen die an? Beim Bombenbasteln, ja, da ganz sicher. Aber wo fängt der Bombenbastler an? Beim Moscheebesuch? Beim Lesen arabischer Web-Seiten? Mit – zufällig – falschen Bekannten? Auf der Suche nach islamistischen Schläfern haben Bundes- und Landesregierung längst den Scanner ans Land gelegt, und gescannt werden zwangsläufig auch Unschuldige.
Genau das, was das Bundesverfassungsgericht 1983 im »Volkszählungsurteil« verboten hat, nämlich die systematische, maschinell gestützte Durchleuchtung der Bevölkerung, zählt seit dem 11. September zu den höchsten Prioritäten der Sicherheitspolitik – ohne dass dies bisher grundlegend debattiert worden wäre. Ein Blick in das Volkszählungsurteil zeigt, wie fremd uns das eigene Verfassungsrecht mittlerweile geworden ist. »Eine umfassende Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit durch die Zusammenführung einzelner Lebensdaten und Personaldaten zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen der Bürger« sei unzulässig, schrieben die Karlsruher Richter vor gut zwanzig Jahren. Zum »Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung« gehöre deshalb, dass grundsätzlich jedermann selbst entscheiden könne, was er wem gegenüber von sich preisgeben wolle.
Doch genau dies, das unbemerkte Profiling, die vorbeugende Einsicht ins Menscheninnere, ist Ziel von immer mehr »Schutzgesetzen«. Schon seit Inkrafttreten der beiden Antiterrorpakete aus den Jahren 2001 und 2002 (im Volksmund »Otto-Katalog«) dürfen Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst von Banken Informationen über Geldbewegungen einholen, die Post überwachen, von Fluglinien Reiseinformationen abrufen sowie Telefonate und E-Mails überwachen. Dem Bundeskriminalamt wiederum ist es erlaubt, von Behörden und Firmen Auskünfte über Bürger und Angestellte einzuholen. Gemäß dem »Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit« sollen sich vom 1. April an Sachbearbeiter der Finanz- und Sozialämter, in der Arbeitsagentur und der Bafög-Stelle quasi auf Knopfdruck und ohne richterliche Anordnung Übersicht über sämtliche Konten und Gelddepots des Bürgers verschaffen können. Ebenfalls ohne richterliche Genehmigung, so will es Rot-Grün, soll künftig die Speicherung von anonymem DNA-Material möglich sein. Um das Anzapfen des E-Mail-Verkehrs zu erleichtern, sind private Provider seit Anfang dieses Jahres verpflichtet, ihre Rechnerzentralen mit Hard- und Software nachzurüsten, die es erlauben, die Kunden im Auftrag der Polizei oder des Verfassungsschutzes zu überwachen.
Die Bürger von Thüringen, Niedersachsen, Hessen und Rheinland-Pfalz müssen sich sogar darauf einstellen, dass ihre E-Mail-Konten künftig auch dann von der Polizei überwacht werden können, wenn keinerlei Verdacht gegen sie vorliegt. »Präventiv-polizeiliche Telekommunikationsüberwachung« heißt der einigermaßen revolutionäre Paragraf im Juristen-Sprech, den diese Länder ohne viel Aufhebens ins Landespolizeirecht aufgenommen haben. Er ermächtigt die Polizei nach richterlicher Anordnung, den Telefon- und E-Mail-Verkehr von völlig unschuldigen Bürgern anzuzapfen. Es reicht schon, wenn man unwissentlich in den Umkreis eines Terrorverdächtigen gerät; sei es als Nachbar, Mitbewohner, Arbeitskollege oder Sportsfreund. »Kontakt- und Begleitpersonen« nennt das Gesetz diesen Personenkreis. Für dessen Überwachung bedarf es nicht einmal einer konkreten Gefahr (wie sonst im Polizeirecht). Stattdessen sind die Paragrafen darauf zugeschnitten, langfristige Observationen zu ermöglichen. Bis zu fünf Monate E-Mail- und Telefon-Verkehr dürfen die Beamten auf Anordnung eines Richters auswerten.
Telekommunikationsanbieter müssen zu diesem Zweck zwei Monate lang alle Verbindungsdaten auf Vorrat sammeln – es entsteht ein umfassendes Gedächtnis aller Telefonate, E-Mails und SMS, aus dem Ermittler sich bedienen können. Eine solch weitgehende Ausforschung durften früher nur Nachrichtendienste betreiben. Aus gutem Grund: Den Geheimen fehlen die Möglichkeiten für weitere Grundrechtsrechtseingriffe, sie dürfen weder verhaften noch vernehmen, noch durchsuchen. Die Polizei hingegen kann das alles.
Fragen ließe sich: Was soll die Panik? Otto Normalsurfer hat doch nichts zu verbergen. Tatsächlich? Für viele Einzelinformationen mag das stimmen, aber: Fängt man an, bestimmte Informationen zu kombinieren, ergeben sich ganz schnell neue Erkenntnisse. Aus der Tatsache zum Beispiel, welche Tageszeitung jemand abonniert, ob er Öko-Milch kauft und welche Bücher er bestellt, lässt sich darauf schließen, welche Partei er höchstwahrscheinlich wählt. So lassen sich aus scheinbar belanglosen Daten alsbald Gedanken lesen. Und das könnte – irgendwann einmal – für eine Regierung schon interessant werden. Genauso funktioniert bereits die Rasterfahndung nach Terroristen. Die Datensätze zehntausender Menschen werden auf verdächtige Merkmale hin durchsiebt. Die wenigsten derer, die im Raster hängen bleiben, hegen freilich Terrorpläne. Gleichwohl, ihre Computerspuren und Telefongespräche könnte das nächstgelegene Landeskriminalamt durchaus spannend finden – man wird ja wohl mal nachsehen dürfen?
»Behörden spitzeln das Lebensumfeld von Bürgern aus«
Klick für Klick verschiebt sich so die Informationsverteilung zwischen Staat und Bürger. Und damit verschieben sich die politischen Gewichte. Auf diese Weise fängt die freiheitliche Ordnung an, sich selbst zu demontieren. Wenn die Bürger besorgt sein müssen, in jeder Lebenslage überwacht zu werden, untergräbt das auf lange Sicht den Mut zur freien Meinungsäußerung.
»Polizei und viele andere Behörden erstellen schon jetzt anlassfrei Persönlichkeitsprofile und spitzeln das Lebensumfeld von Bürgern aus«, sagt Thilo Weichert, Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein. »Das ist ganz klar ein Verstoß gegen das Volkszählungsurteil und damit verfassungswidrig.« Weichert kann nur warnen und kritisieren – aufhalten kann er nichts. Zumal die Sicherheitstechnik auch noch auf einer weiteren Welle daherrollt, die ganz besonders machtvoll ist: Gemeint ist die Globalisierung. Nichts als Abnicken bleibt den deutschen Abgeordneten bei solchen Entscheidungen, welche Europa im politischen Schwitzkasten der USA trifft. Washington verlangt vom kommenden Herbst an biometrische Pässe für die Einreise, Punkt, aus. »Die Grünen-Fraktion kann nicht etwas verhindern, auf das die Welt sich geeinigt hat«, klagt deren innenpolitische Sprecherin Silke Stokar.
Auch Teilen der SPD scheint jetzt erst aufzufallen, was sie unter dem Eindruck des 11. September 2001 mitentschieden haben. Nun erst, da die Aufnahme von biometrischen Merkmalen in Ausweispapiere beschlossene Sache ist, fordert die Parlamentarische Linke der Bundestagsfraktion das Innenministerium auf, bitte schön einmal darzulegen, ob und wie diese Innovation tatsächlich einen Beitrag zur Sicherheit der Bürger leiste. Schließlich sei über Missbrauchsmöglichkeiten noch gar nicht geredet worden. Die Abgeordneten wollen wissen: Sind die Speicher-Chips in den Ausweisen wirklich gegen unbefugtes Auslesen geschützt?
»Bürgerkarte«, was ist das? Schweigen im Innenministerium
Ist es wirklich ausgeschlossen, dass die Biometrie-Daten zentral gespeichert werden – etwa von einer EU-Behörde? Überrollt fühlen sich die Parlamentarier nicht zuletzt deshalb, weil sich Otto Schily zuerst auf europäischer Ebene für die Biometrie stark machte und der entsprechende Beschluss anschließend in Form einer EU-Richtlinie in den Bundestag flatterte. Kritische Diskussion über die Sache im nationalen Parlament? Fehlanzeige. Schriftliche Anfragen zur Biometrie, sagt die SPD-Abgeordnete Ulla Burchardt, seien vom Innenministerium »in einer dermaßen herablassenden und nicht informativen Art und Weise beantwortet worden, dass man wirklich den Eindruck bekommt, dass Transparenz an dieser Stelle nicht erwünscht ist«.
In der Tat gibt sich Schilys Haus zugeknöpft. Aber aus einer Kleinen Anfrage der FDP-Fraktion an die Bundesregierung vom 4. Januar geht hervor, dass die neuen Personalausweise von 2007 an auch eine »Bürgerkartenfunktion« enthalten sollen. Mit ihrer Hilfe soll es möglich sein, sich künftig biometrisch im Internet auszuweisen. Frage ans Innenministerium: Wie wird das genau funktionieren? Antwort: »Die technischen Konzepte dazu werden zurzeit erarbeitet.«
»Wir wüssten auch gerne mehr«, sagt Thomas Petermann, der stellvertretende Leiter des Büros für Technikfolgenabschätzung des Bundestags. Ihn ärgere, sagt er, »mit welcher Selbstverständlichkeit solche Dinge über die Bühne gehen«. Die Regierung begründe nicht mehr, was sie tue, im Eiltempo würden Entscheidungen getroffen, ohne vorherige Debatte. »Wir wissen auch nicht, wer die Bürgerkarte auslesen kann, welche Daten wo gespeichert werden, welche Rechte der Bürger hat und wie die Datenschützer das alles kontrollieren sollen.«
Am Biometrie-Institut Friedberg, drei Fingerabdrücke später. Professor Michael Behrens, der Leiter des Labors, lächelt und hält seinen linken Zeigefinger in die Höhe. »Wissen Sie, wie ich den nenne?«, fragt er. »Meinen Wissenschaftsfinger.« Mehr, will er damit sagen, bekommt kein Gerät von ihm. Behrens kommt auf seine Studienzeit zu sprechen. Auf die späten Siebziger. Die RAF-Zeiten. Auf die Notstandsgesetze. Er wolle auf keinen Fall als Biometrie-Gegner gelten, sagt er. »Aber eine der Lehren von damals«, meint der Biometrie-Forscher, »ist doch, dass Freiheitsrechte, die einmal eingebüßt sind, sehr schwer wieder zurückzuerobern sind.«
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