Was Konzerne und Behörden alles über uns wissen
München - Auf seine Kundenkarte ist Robert Rivera seit dem Sturz im Supermarkt nicht mehr gut zu sprechen. Beim Einkaufen rutschte der Amerikaner auf einer Joghurtpfütze aus und zertrümmerte sich die Kniescheibe. Ein klarer Fall von Schadenersatz, dachte Rivera. Doch die US-Kette zahlte keinen Cent. Ein Anwalt teilte lapidar mit, Rivera sei selbst schuld an dem Unfall. Sicher sei er wieder betrunken gewesen - bei der Menge Alkohol, die er laut hauseigener Datenbank ständig konsumiere.
Michael Ziegler braucht 90 Sekunden, dann ist er beim internationalen Terrorismus. New York, Djerba, Madrid. Dagegen müsse man sich schützen, sagt der Sprecher des bayerischen Innenministeriums. Hätte zum Beispiel Spanien nicht routinemäßig alle Telefondaten gespeichert, dann wären die Männer nie gefunden worden, die am 11. März 2004 in Madrid vier Züge sprengten und 191 Menschen töteten. Michael Ziegler hat Recht - und das zeigt das Dilemma.
Wer heute über Daten und ihren Schutz nachdenkt, bewegt sich zwischen zwei Extremen: den Vorteilen, die die digitalen Daten bringen für Behörden, Unternehmen, Kunden und Bürger - und der Gefahr, bald lückenlos kontrolliert zu werden. Der Schwede Pär Ström, Spezialist für Informationstechnologie, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema. Seit dem 11. September 2001 sieht er eine Tendenz: "Auf einer Skala zwischen Anarchie und Überwachungsstaat bewegen wir uns in Richtung Überwachungsstaat."
Das klingt dramatisch; doch die meisten Menschen interessiert das nicht. Dass jeder Handy-Besitzer zu lokalisieren ist? Egal. Dass Kaufhäuser mit Hilfe der Kundenkarten jeden Einkauf rekonstruieren können? Unbekannt. Dass man beim Senden von E-Mails seinen Freundeskreis preisgibt? Verdrängt. Dass sich anhand der besuchten Web-Sites politische und sexuelle Vorlieben aufdecken lassen? Panikmache. Dass Polizisten und Staatsanwälte seit dem 1. April jedes Konto abfragen dürfen? Was soll's? Wer nichts verbrochen hat, der hat auch nichts zu befürchten.
Pär Ström kennt dieses Argument. Er hält es für falsch. Der Autor des Buches "Die Überwachungsmafia" sagt: "Der Schutz der Intimsphäre ist ein Grundrecht." Dieses Recht sieht Ström in Gefahr. Nicht der große Bruder aus George Orwells Überwachungsfiktion "1984" sei das Problem, sondern "die vielen kleinen Brüder, die uns immer stärker in die Enge treiben".
Das böse Wort heißt Zweckverschiebung. Ein gutes Beispiel ist das Gesetz zur Steuerehrlichkeit von 2003. Um festzustellen, wer Steuern hinterzieht, nutzen Behörden seit April sensible Finanzdaten, die nach dem 11. September eigentlich erhoben worden waren, um Geldflüsse von Terroristen trockenzulegen. "Das passiert immer öfter", klagt Reinhard Vetter, der bayerische Datenschutzbeauftragte. "Die Behörden hoffen dann, dass der Aufschrei nicht mehr ganz so groß ist, weil die Daten sowieso schon vorliegen."
Wie perfide gerade Unternehmen vorgehen, um intime Details ihrer Kunden zu sammeln, zeigt das Beispiel der spanischen Edel-Diskothek "Baja Beach Club" in Barcelona. Wer sich für besonders wichtig hält, kann sich dort einen Chip in Oberarm oder Schulter pflanzen lassen. Der, so preisen die Clubchefs, sorge dafür, dass nur exklusive Stammkunden in bestimmte Räume gelangten - wo sie ihre Privatbar hätten und ohne Bargeld zahlen könnten. Dass die "Very Important Persons" (VIP) durch die vom Chip gesendeten Radiowellen überwachbar werden wie Kühe mit einer Ohrmarke, das steht nicht auf der Homepage.
Was wie eine Schreckensvision für das Jahr 2050 klingt, wird auf amerikanischen Internet-Seiten längst diskutiert: Sorglos reihen Nutzer Vorschlag an Vorschlag, wie sich der Preis für die Chips drücken lässt - damit sich möglichst viele Menschen bald das reiskorngroße Teil in den Körper jagen. "Chippen" heißt das im Fachjargon. Die Grenzen ethischen Handelns, sie spielen hier keine Rolle.
Noch schützt uns die schiere Datenmenge. Aber das ändert sich: Immer öfter fräst sich elektronische Suchsoftware durch den Berg der Bits und Bytes von Handybetreibern, E-Mail-Servern, Kaufhausketten. Und alle Datenbanken haben ein Leck. IT-Spezialist Pär Ström warnt: "Eines der größten Risiken ist, dass Polizei und Behörden an die Daten der Privatwirtschaft gelangen."
Als könnten sie gar nicht schnell genug an diese digitalen Daten kommen, wollen die Staaten der Europäischen Union demnächst alle Webseiten, E-Mails, SMS und Anrufe langfristig speichern. Im Gespräch sind 48 Monate. Datenschützer Vetter sagt: "Das Überwachungsnetz wird immer dichter."
Pär Ström macht sich trotzdem für eine differenzierte Sicht stark. Das Bild vom allgegenwärtigen, bösen Staat gefällt dem IT-Spezialisten so wenig wie eine Verharmlosung des Datenmissbrauchs. Ström fordert deshalb eine europaweite, öffentliche Diskussion - und das so bald wie möglich: "Wir Bürger müssen entscheiden, bis zu welcher Grenze wir gehen wollen."
Pär Ström, Die Überwachungsmafia. Das gute Geschäft mit unseren Daten, Hanser-Verlag, 340 Seiten, Preis: 19,90 Euro, ISBN: 3-446-22980-9.
TOBIAS RÖSMANN
Datum: 07.06.2005 20:22 Uhr
http://www.merkur-online.de/nachrichten/vermischtes/report/art370,402141.html?fCMS=fa212f05f819f2d2f7054e1bd0dc6710
Nachricht von der BI Bad Dürkheim