Zeitzeichen - Grenzen des Weghörens
29. Juli 2004, 02:11, Neue Zürcher Zeitung
Zeitzeichen - Grenzen des Weghörens
Über die Lärm- und Zwangsgesellschaft
Der Lärm nimmt zu. Die Klagen über ihn werden nicht weniger, werden aber selten erhört. Ist unsere Gesellschaft auf dem direkten Wege, eine Zwangsgesellschaft zu werden, die die Ohren ihrer Mitglieder ungehemmt akustisch mit Beschlag belegt?
Aus der akustischen Feldforschung: Ein Großraumwagen der Bahn, locker besetzt. Plötzlich, zwei, drei Sitze hinter mir, das Geklingel eines Handys. Ich schrecke hoch. Unwillig drehe ich mich um, Quelle und Besitzer genauer zu orten, da erschallt ein zweiter unerbetener Weckruf ein paar Sitze vor mir. Diesmal ist es eher ein Gebimmel. Und noch bevor ich dort fündig werde, meldet sich aus der Tiefe des Raumes schon ein drittes Handy, dieses Mal mit einer Art von Gepiepse. Offenbar bin ich in einem Vogelkäfig gelandet, einer fahrenden Voliere. Und bei dem Trio bleibt es nicht. Bald fallen weitere Handys oder auch die schon gehörten weitere Male ein.
Was aber haben sie ihren Handy-Partnern zu sagen? Handy Nr. 1 teilt dem anderen Ende der Verbindung mit, dass es gerade den Zug bestiegen hat, um sich anschließend ausgiebig dank der Verbindung darüber zu unterhalten, wie denn die Verbindung ist. Ein Kommunikationsforscher würde das wahrscheinlich eine Art von Metakommunikation nennen.
Handy Nr. 2 teilt dem anderen Ende der Verbindung mit, wie draußen das Wetter ist. Dann will es, von unstillbarem Wissensdrang gepeinigt, auch selber erfahren, wie denn inzwischen am Abfahrtsort das Wetter ist. Handy Nr. 3 teilt dem Auditorium des Großraumwagens mit, auf welchen Kosenamen das andere Ende der Leitung hört. Und im weiteren Lauf der Reise wird es dasselbe Großraumauditorium in den ganzen Reichtum seiner Beziehungen, die Intimität erst seines Geschäfts-, dann seines Geschlechtslebens mit dem jeweils anderen Ende der Verbindung einweihen. Und wie teilt man alle diese schönen Dinge dem jeweils anderen Ende der Verbindung mit? Vor allem laut, weil man am Telefon bekanntlich immer lauter als gewöhnlich sprechen muss, im Zug selbstverständlich noch lauter.
Lärm und Nullinformation
Handys sind eine der symptomatischsten Objektivationen der entfesselten Kommunikationsgesellschaft, die in eine «akustische Zwangsgesellschaft» übergeht. Sie paart Lärm mit Nullinformation. Gegenüber den Mithörern, die der handygestützten Kommunikation nicht entrinnen können, nimmt sie wie selbstverständlich ein Recht auf Verletzung der akustischen Grenze in Anspruch. Eine persönliche Sphärengrenze, die einen Raum wechselseitiger Schonung umrisse, Schallschutzgrenzen, die man nicht ohne Not überschreiten darf, wie man selber innerhalb ihrer vor Störung sicher ist, eine Diskretionsgrenze und ein Datenschutz im Sinne des Schutzes vor fremden Daten existieren nicht mehr.
Wie die Handy-User nach der frühen Einsicht von Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson «nicht mehr nicht kommunizieren» können, so können die unfreiwilligen Mithörer nicht mehr nicht partizipieren. Sie werden akustisch zwangssozialisiert, paradoxerweise durch den Terror des Privaten, ja Intimen. Wäre das Wort nicht etwas zu lärmend und humorlos, könnte man die akustische Zwangsgesellschaft in diesem Sinn totalitär nennen.
Freilich ist das Handy ein relativ moderates und noch mit dem Bonus der - wie auch immer zu verstehenden - Kommunikation ausgestattetes Beispiel für die akustische Zwangsgesellschaft. Was sie als «Lärm» empfindet, scheint weitaus brutalerer Art sein zu müssen, um überhaupt als solcher wahrgenommen zu werden. Die Ohren sind wie die Seelen längst einer partiellen Ertaubung zum Opfer gefallen, die man als Selbstimmunisierung, als Bildung einer Art von akustischen Schwielen, verstehen mag.
Diese partielle Ertaubung samt der Relativierung des Lärmbegriffs zeigt sich selbst in jenen Zonen, die seit einiger Zeit eine gewisse kritische Aufmerksamkeit gefunden haben: von der musikalischen Zwangsbeschallung in öffentlichen Räumen (Kaufhäusern, Bahnhöfen, ganzen Innenstädten) über den hoch technisierten Krieg gegen die Natur, der sich Landschafts- oder auch Gartenpflege nennt, bis zum Verkehrslärm, der im Fluglärm oder auch bei den Lärmterroristen mit motorisierten Zweirädern seine Spitzenwerte erreicht. Aber Desensibilisierung, die Herausbildung akustischer Schwielen, ändert nichts daran, dass Lärm immer akustische Gewalt ist.
Dass es analog der «gefühlten Temperatur» einen «gefühlten Lärm» gibt, entschärft das Problem keineswegs, im Gegenteil, es bedeutet, dass die - notwendige und hilfreiche - «Dezibelisierung» der objektiv messbaren Lärmgrenzwerte auf der nach oben offenen Lärm-Richter-Skala ergänzt werden muss um den legitimen subjektiven Faktor, der umso größere Rücksichtnahme erfordert, als er nur bedingt messbar ist.
Immerhin ist über den Lärm als «Umweltproblem Nr. 1» in den letzten Jahren mehr denn je geforscht und diskutiert worden. Eine Reihe vorzüglicher Bücher ist erschienen, unter anderem Rüdiger Liedtkes «Die Vertreibung der Stille» und Stephan Marks «Es ist zu laut!», Ausrufezeichen, «Ein Sachbuch über Lärm und Stille» - worin das «elfte Gebot» des Dichters Robert Gernhardt zu finden ist: «Du sollst nicht lärmen. Ein Gebot, das Gott vergessen hatte.» Das bisher umfassendste und zugleich radikalste Buch zum Thema: Rigo Baladurs «Der Stille Tod», «Stille» groß geschrieben und im Genitiv: Es geht um den Tod der Stille, um einen Tod, bei dem die alten Assoziationen versagen, wonach der Tod selber still sei. Weit gefehlt, lärmend kommt er.
Unverschließbare Ohren
Zu seiner fatal gesteigerten aktuellen Wirkung kommt der Lärm freilich aufgrund eines augenfälligen, richtiger: ohrenfälligen Merkmals der anthropologischen Grundausstattung: dass das Ohr das offenste und zugleich wehrloseste der menschlichen Sinnesorgane ist. Die Evolution hat es leider versäumt, uns einen bei Bedarf aktivierbaren, dem Willen unterliegenden natürlichen Ohrenverschluss wie bei den Augen die Lider mitzugeben. Von Ohropax reden wir hier nicht. Medientheoretisch gesehen, sind die Ohren ein nicht abschaltbarer Receiver. Das Handy aber entpuppt sich aus dieser Perspektive gewissermaßen als Parodie des Ohres. Günther Anders hat im zweiten Band seines Hauptwerkes «Die Antiquiertheit des Menschen» den Zusammenhang mit der Antiquiertheit der Privatheit hergestellt: «Die Dimension des Akustischen ist die Dimension der Unfreiheit. Als Hörende sind wir unfrei. Fortzuhören ist schwieriger, als fortzublicken.»
Die Unverschließbarkeit des Ohres hatte in den Urwäldern, Savannen und Höhlensystemen der gattungsgeschichtlichen Frühzeit und in allen Gefahrenbereichen auch darüber hinaus für ein schlafbedürftiges, augenschließendes Wesen ihren guten Wachsamkeitssinn. In den «Urwäldern» der heutigen Gesellschaft wird sie zum Desaster. Statt aus der Lid-, der Wehrlosigkeit der Ohren eine besondere Sorgfaltspflicht, die Grundregeln akustischer Rücksichtnahme, abzuleiten, liefert diese Gesellschaft das Gehör allen Attacken schutzlos aus.
Ludger Lütkehaus
http://www.nzz.ch/2004/07/29/fe/page-article9QSK7.html
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Zeitzeichen - Grenzen des Weghörens
Über die Lärm- und Zwangsgesellschaft
Der Lärm nimmt zu. Die Klagen über ihn werden nicht weniger, werden aber selten erhört. Ist unsere Gesellschaft auf dem direkten Wege, eine Zwangsgesellschaft zu werden, die die Ohren ihrer Mitglieder ungehemmt akustisch mit Beschlag belegt?
Aus der akustischen Feldforschung: Ein Großraumwagen der Bahn, locker besetzt. Plötzlich, zwei, drei Sitze hinter mir, das Geklingel eines Handys. Ich schrecke hoch. Unwillig drehe ich mich um, Quelle und Besitzer genauer zu orten, da erschallt ein zweiter unerbetener Weckruf ein paar Sitze vor mir. Diesmal ist es eher ein Gebimmel. Und noch bevor ich dort fündig werde, meldet sich aus der Tiefe des Raumes schon ein drittes Handy, dieses Mal mit einer Art von Gepiepse. Offenbar bin ich in einem Vogelkäfig gelandet, einer fahrenden Voliere. Und bei dem Trio bleibt es nicht. Bald fallen weitere Handys oder auch die schon gehörten weitere Male ein.
Was aber haben sie ihren Handy-Partnern zu sagen? Handy Nr. 1 teilt dem anderen Ende der Verbindung mit, dass es gerade den Zug bestiegen hat, um sich anschließend ausgiebig dank der Verbindung darüber zu unterhalten, wie denn die Verbindung ist. Ein Kommunikationsforscher würde das wahrscheinlich eine Art von Metakommunikation nennen.
Handy Nr. 2 teilt dem anderen Ende der Verbindung mit, wie draußen das Wetter ist. Dann will es, von unstillbarem Wissensdrang gepeinigt, auch selber erfahren, wie denn inzwischen am Abfahrtsort das Wetter ist. Handy Nr. 3 teilt dem Auditorium des Großraumwagens mit, auf welchen Kosenamen das andere Ende der Leitung hört. Und im weiteren Lauf der Reise wird es dasselbe Großraumauditorium in den ganzen Reichtum seiner Beziehungen, die Intimität erst seines Geschäfts-, dann seines Geschlechtslebens mit dem jeweils anderen Ende der Verbindung einweihen. Und wie teilt man alle diese schönen Dinge dem jeweils anderen Ende der Verbindung mit? Vor allem laut, weil man am Telefon bekanntlich immer lauter als gewöhnlich sprechen muss, im Zug selbstverständlich noch lauter.
Lärm und Nullinformation
Handys sind eine der symptomatischsten Objektivationen der entfesselten Kommunikationsgesellschaft, die in eine «akustische Zwangsgesellschaft» übergeht. Sie paart Lärm mit Nullinformation. Gegenüber den Mithörern, die der handygestützten Kommunikation nicht entrinnen können, nimmt sie wie selbstverständlich ein Recht auf Verletzung der akustischen Grenze in Anspruch. Eine persönliche Sphärengrenze, die einen Raum wechselseitiger Schonung umrisse, Schallschutzgrenzen, die man nicht ohne Not überschreiten darf, wie man selber innerhalb ihrer vor Störung sicher ist, eine Diskretionsgrenze und ein Datenschutz im Sinne des Schutzes vor fremden Daten existieren nicht mehr.
Wie die Handy-User nach der frühen Einsicht von Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson «nicht mehr nicht kommunizieren» können, so können die unfreiwilligen Mithörer nicht mehr nicht partizipieren. Sie werden akustisch zwangssozialisiert, paradoxerweise durch den Terror des Privaten, ja Intimen. Wäre das Wort nicht etwas zu lärmend und humorlos, könnte man die akustische Zwangsgesellschaft in diesem Sinn totalitär nennen.
Freilich ist das Handy ein relativ moderates und noch mit dem Bonus der - wie auch immer zu verstehenden - Kommunikation ausgestattetes Beispiel für die akustische Zwangsgesellschaft. Was sie als «Lärm» empfindet, scheint weitaus brutalerer Art sein zu müssen, um überhaupt als solcher wahrgenommen zu werden. Die Ohren sind wie die Seelen längst einer partiellen Ertaubung zum Opfer gefallen, die man als Selbstimmunisierung, als Bildung einer Art von akustischen Schwielen, verstehen mag.
Diese partielle Ertaubung samt der Relativierung des Lärmbegriffs zeigt sich selbst in jenen Zonen, die seit einiger Zeit eine gewisse kritische Aufmerksamkeit gefunden haben: von der musikalischen Zwangsbeschallung in öffentlichen Räumen (Kaufhäusern, Bahnhöfen, ganzen Innenstädten) über den hoch technisierten Krieg gegen die Natur, der sich Landschafts- oder auch Gartenpflege nennt, bis zum Verkehrslärm, der im Fluglärm oder auch bei den Lärmterroristen mit motorisierten Zweirädern seine Spitzenwerte erreicht. Aber Desensibilisierung, die Herausbildung akustischer Schwielen, ändert nichts daran, dass Lärm immer akustische Gewalt ist.
Dass es analog der «gefühlten Temperatur» einen «gefühlten Lärm» gibt, entschärft das Problem keineswegs, im Gegenteil, es bedeutet, dass die - notwendige und hilfreiche - «Dezibelisierung» der objektiv messbaren Lärmgrenzwerte auf der nach oben offenen Lärm-Richter-Skala ergänzt werden muss um den legitimen subjektiven Faktor, der umso größere Rücksichtnahme erfordert, als er nur bedingt messbar ist.
Immerhin ist über den Lärm als «Umweltproblem Nr. 1» in den letzten Jahren mehr denn je geforscht und diskutiert worden. Eine Reihe vorzüglicher Bücher ist erschienen, unter anderem Rüdiger Liedtkes «Die Vertreibung der Stille» und Stephan Marks «Es ist zu laut!», Ausrufezeichen, «Ein Sachbuch über Lärm und Stille» - worin das «elfte Gebot» des Dichters Robert Gernhardt zu finden ist: «Du sollst nicht lärmen. Ein Gebot, das Gott vergessen hatte.» Das bisher umfassendste und zugleich radikalste Buch zum Thema: Rigo Baladurs «Der Stille Tod», «Stille» groß geschrieben und im Genitiv: Es geht um den Tod der Stille, um einen Tod, bei dem die alten Assoziationen versagen, wonach der Tod selber still sei. Weit gefehlt, lärmend kommt er.
Unverschließbare Ohren
Zu seiner fatal gesteigerten aktuellen Wirkung kommt der Lärm freilich aufgrund eines augenfälligen, richtiger: ohrenfälligen Merkmals der anthropologischen Grundausstattung: dass das Ohr das offenste und zugleich wehrloseste der menschlichen Sinnesorgane ist. Die Evolution hat es leider versäumt, uns einen bei Bedarf aktivierbaren, dem Willen unterliegenden natürlichen Ohrenverschluss wie bei den Augen die Lider mitzugeben. Von Ohropax reden wir hier nicht. Medientheoretisch gesehen, sind die Ohren ein nicht abschaltbarer Receiver. Das Handy aber entpuppt sich aus dieser Perspektive gewissermaßen als Parodie des Ohres. Günther Anders hat im zweiten Band seines Hauptwerkes «Die Antiquiertheit des Menschen» den Zusammenhang mit der Antiquiertheit der Privatheit hergestellt: «Die Dimension des Akustischen ist die Dimension der Unfreiheit. Als Hörende sind wir unfrei. Fortzuhören ist schwieriger, als fortzublicken.»
Die Unverschließbarkeit des Ohres hatte in den Urwäldern, Savannen und Höhlensystemen der gattungsgeschichtlichen Frühzeit und in allen Gefahrenbereichen auch darüber hinaus für ein schlafbedürftiges, augenschließendes Wesen ihren guten Wachsamkeitssinn. In den «Urwäldern» der heutigen Gesellschaft wird sie zum Desaster. Statt aus der Lid-, der Wehrlosigkeit der Ohren eine besondere Sorgfaltspflicht, die Grundregeln akustischer Rücksichtnahme, abzuleiten, liefert diese Gesellschaft das Gehör allen Attacken schutzlos aus.
Ludger Lütkehaus
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Starmail - 29. Jul, 15:24