17
Aug
2004

Wenn Eltern zu Big Brother werden

Dienste zur Ortung von Kindern sind en vogue. Mit Junior-Tel gibt es auch ein Gerät in der Schweiz. Mehr Sicherheit oder Kontrollwahn?

Von Simone Luchetta

Zehn Uhr ist vorbei und die 13-jährige Tochter ist von der Party einer Freundin noch nicht daheim eingetroffen, obwohl das so abgemacht war. Ist irgendetwas passiert? Ein Unfall? Ein Verbrechen? Warum meldet sie sich nicht? Eltern kennen das Gefühl, das einen beschleicht, wenn Tochter oder Sohn allein unterwegs sind. Mit Ortungsdiensten können sie ihre Kinder rund um die Uhr im Auge behalten.

In Deutschland gibt es seit Ende letzten Jahres den Handy-Ortungsdienst Trackyourkid, zu Deutsch «Spüre dein Kind auf». Die Voraussetzung dazu ist meist gegeben: Die Kids müssen ein Handy bei sich tragen. Innert Minuten können Eltern in ganz Deutschland herausfinden, wo sich ihr Kind gerade aufhält. Sie schicken dazu ein SMS mit der Handynummer des gesuchten Kindes an die Anbieterfirma Armex, die mit Hilfe des zuständigen Mobilfunkanbieters das Telefon ortet und die Antwort per SMS oder als Karte im Internet an die Eltern weitergibt. Das funktioniert, weil Mobiltelefone ständig via Funksignal mit der nächsten Handyantenne in Kontakt stehen. Wer die «Funkzelle» kennt, kennt grob den Standort. Die Technik nennt sich Local Based Service (LBS). In den Städten ist das Netz dichter und deshalb die Ortung auf bis zu 50 Meter genau, auf dem Land dagegen sind es oft mehrere Kilometer.

Ortungshandy auch in der Schweiz

Trackyourkid käme gern in die Schweiz, hat aber keinen Mobilnetzanbieter gefunden, der mitmacht. Andere Dienste sind noch nicht verfügbar. Es dürfte aber eine Frage der Zeit sein, bis auch Swisscom, Orange oder Sunrise in das Geschäft mit besorgten Eltern einsteigen. «Wir haben zurzeit keine konkreten Pläne, halten den Dienst aber für grundsätzlich interessant und werden die Entwicklung weiterverfolgen», sagt Sunrise-Sprecherin Monika Walser.

Bereits zu haben ist dafür das Mobi-Click Junior-Tel der Chamer Firma Mobi-Click. Das Handy hat nur drei Tasten und eignet sich deshalb auch ideal für alte Menschen. Das Junior-Tel können Eltern schon heute orten, indem sie ein SMS senden. Innert Minuten erhalten sie eines zurück mit der Zellennummer, etwa «303b». Die Nummer sehen Eltern auch auf ihrem Handybildschirm, wenn sie ihr Kind anrufen. Bei Swisscom ist sie in eine geografische Bezeichnung wie «Küssnacht a. Rigi» übersetzt, bei Sunrise und Orange gilt es nachzufragen. Während etwa in Großbritannien der Zellenplan öffentlich im Internet zugänglich ist, wird er in der Schweiz noch unter Verschluss gehalten. Die SMS-Abfrage geschieht, ohne dass die Tochter oder der Sohn etwas davon merken. Weiter verfügt das Junior-Tel über eine «Schutzzonen»-Funktion. Damit lassen sich Gebiete wie etwa der Schulweg festlegen. Verlässt der Sohn die Schutzzone, warnt ein SMS die Eltern automatisch. Das Modell Mobi-Click Compact hat zusätzlich eine Abhörfunktion eingebaut, über die sich heimlich mithören lässt.

Aber braucht es Ortungsdienste, wenn es Handys gibt? Der Soziologe Michael Feldhaus von der Uni Oldenburg hat in einer Untersuchung zum Thema Handy und Familie herausgefunden, dass viele Eltern ihre Sorge um die Kinder mittels Handy zu reduzieren suchen. So sind Söhne und Töchter jederzeit erreichbar. Abschalten liegt nicht drin, weil sie sich später rechtfertigen müssen und auch Kontaktversuche der Freunde verpassen könnten. Kinder dürften auch eher mal weg, weil sie erreichbar seien, hält der Hamburger Andreas Steinle, Koautor des Buches «Die neue Moral der Netzwerkkinder», fest: «Handys können zu mehr Selbstständigkeit führen, gleichzeitig erhöht sich aber auch die Kontrolle.»

Eltern dürfen entscheiden

Ortungsdienste geben nun noch einen drauf. Kritiker befürchten Missbrauch, statt mehr Sicherheit ständige Kontrolle. «Rechtlich dürfen Eltern entscheiden, ob sie ihre minderjährigen Kinder damit kontrollieren wollen», sagt Kosmas Tsiraktsopulos, Sprecher des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten. Theoretisch kann aber auch ein Ehemann mit einem Mobi-Click der Partnerin nachspionieren, ohne dass diese davon weiß. «Das verstößt klar gegen den Datenschutz und ist einklagbar», so Tsiraktsopulos. Die Herstellerfirma kümmert das wenig: «Wir sind uns bewusst, dass wir uns in einer Grauzone bewegen. Indem wir Mobi-Click ausdrücklich als Sicherheitssystem anbieten, gehen wir aber einen gesetzlich akzeptablen Weg», sagt PR-Manager Peter Keller. Das deckt sich mit der Meinung des Datenschutzbeauftragten. Ein Gerät oder ein Dienst trage nie Schuld. Ausschlag gebend sei die Verwendung: «Ein Gerät zu verbieten, wäre falsch.»

Mit Skepsis sieht der Kinderschutz Schweiz diesen technischen Kindermädchen entgegen. «Wenn sie dazu führen, dass Kinder mehr sich selbst überlassen würden, wäre das eine denkbar ungünstige, wenn nicht fatale Entwicklung», sagt Franz Ziegler. Eine Anregung zur Vernachlässigung des Kindes dürfe es nicht sein. Auch wäre es nicht wünschbar, wenn Eltern zur Big-Brother-Instanz verkämen und die Auseinandersetzung auf der Strecke bliebe. Unterstützt wird er vom Netzwerkkinder-Autor Steinle. Technische Dienste seien als pädagogische Mittel ungeeignet: «Sie untergraben das Vertrauen, und das ist der Tod jeder Beziehung.» Zudem wähne man sich in falscher Sicherheit, was Kinder eventuell erst recht dazu verführe, sich in Gefahr zu begeben: «Wenn man in die Berge geht und es kommt ein Sturm auf, kann einem trotz Ortungsdienst niemand helfen.»

Ähnlich sieht das Rolf Gasser, Präventionsspezialist bei der Kantonspolizei Zürich. Nach seiner Erfahrung taugen sie wenig, um die Sicherheit der Kinder zu verbessern oder Verbrechen gar zu verhindern. Die meisten Entführungen seien bei uns auf «Beziehungsknatsch» zurückzuführen. Ortungsdienste gehen dagegen von einem «bösen Fremden» aus. Sie minderten vor allem die Angst der Eltern, die mit dem wirklichen Gefahrenpotenzial wenig zu tun habe: «Aber mit der Angst lassen sich gute Geschäfte machen.»

Erste Chips gehen unter die Haut

In den USA geschäften damit schon einige Anbieter erfolgreich. Mit dem Slogan «Lehnen Sie sich zurück. Jetzt können sie rund um die Uhr ein ruhiges Gewissen haben, während die Nachbarschaft ihr Kind um das Hightech-Gerät beneidet», wirbt etwa Wherify seit zwei Jahren für ihre Kinderarmbanduhr mit eingebautem GPS-Empfänger. GPS ist ein satellitengestütztes System zur Positionsbestimmung.

Der Ort der Uhr wird über die integrierte Handyelektronik abgefragt, sofern eine Mobilfunkverbindung besteht. Das Kind kann das Armband nicht abstreifen, es lässt sich nur per Fernbedienung lösen. Jetzt kommt die Hightech-Fessel nach Europa: Noch im August soll sie laut «Times» in Großbritannien für 148 Euro erhältlich sein. Noch in diesem Jahr will Wherify in Europa und Asien den handy-ähnlichen GSM GPS Locator lancieren, der auch in der Schweiz verfügbar sein soll. In Südkorea kam kürzlich ein Kinderhandy und GPS-Empfänger auf den Markt, unterstützt vom größten Netzanbieter des Landes.

Im japanischen Tabe startete ein Test, bei dem Schülerinnen und Schüler Funketiketten (RFID-Chips) am Schulthek erhielten, um eine automatische Überwachung auf dem Schulweg zu ermöglichen. Und schon länger tüftelt das US-Unternehmen Applied Digital Solutions an einem Chip, den Kinder zur Ortung unter der Haut tragen könnten. Jetzt scheint es ausgereifte Lösungen zu geben. Mexikos Generalstaatsanwalt ließ sich kürzlich einen implantieren, um Entführer abzuschrecken. [TA | 16.08.2004]

http://www.tagi.ch/dyn/digital/mobile/405240.html

© Tamedia AG


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